Die Fragen meines Sohnes gestern Nacht hatten mich sprachlos und auch ein bisschen wütend gemacht. Darum hab ich mir überlegt, einfach mal aufzuschreiben, wie das bei uns mit dem Autismus ist. Ich glaub, viele können sich unter einem Autist, einer Autismusspektrumstörung oder dem Asperger Syndrom gar nicht viel vorstellen.
Vielleicht hilft es aber auch denjenigen, die merken, dass ihr Kind anders ist. Für Eltern, die an sich zweifeln und sich fragen, ob sie irgendetwas verkehrt gemacht haben. Oder für Erzieher, die ein Kind mit Auffälligkeiten betreuen. Ich bin kein Psychologe und das ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein ganz persönlicher Erfahrungsbericht.
Autismus und „Rain Man“
Unser Sohn Laurenz ist 6,5 Jahre und hat seit drei Jahren die Diagnose Autismusspektrumstörung. Wir bekommen öfters zu hören: „Der sieht aber gar nicht wie ein Autist aus“. „Der verhält sich doch ganz normal“ oder „Dies und das macht unser Kind auch, das ist doch normal bei Kindern“.
Ja, aber was ist den typisch autistisch? Viele denken gleich an den Film „Rain Man„* mit Dustin Hoffman. Auch bei mir war das der erste Gedanke.
„Kennst du einen Autisten, dann kennst du EINEN Autisten“,
sagt man immer so. Wo liegt die Grenze zwischen normalem kindlichem Verhalten und einer autistischen Störung?
Unauffällig bis zum 3. Lebensjahr
Unser Sohn entwickelte sich nach einer normalen Schwangerschaft und Geburt bis zum dritten Lebensjahr ohne große Auffälligkeiten. Er hatte die eine oder andere kleine „Macke“, wie wir es liebevoll abtaten. Ich bin jetzt nicht die Übermutter, die in jedes untypische Verhalten etwas hinein interpretiert. Viele Dinge sind uns erst mit der Testung im Nachhinein bewusst aufgefallen. Unter anderem:
- Ein- und Durchschlaf-Probleme,
- kein Interesse an anderen Kindern,
- wenig Spielbedürfnis,
- ständig wiederkehrende Rituale,
- Wutanfälle bis zur Erschöpfung,
- Stereotypen (im Kreis laufen, Dinge ablecken),
- hohe Geräuschempfindlichkeit,
- viel Phantasie,
- extreme Merkfähigkeit,
- ungewöhnlich ausgefeilte Sprache,
- eigene Worterfindungen.
Wie gesagt, wir haben das zwar alles bemerkt, dem aber keine überschwängliche Aufmerksamkeit beigemessen. Bei den U-Untersuchungen gab es gesundheitlich auch keine Auffälligkeiten. Und wenn ich mich mit anderen Müttern und Eltern unterhalten hab, bekam ich immer zu hören: „Das macht meiner auch“, „Mach dir keinen Stress, der braucht halt mehr Zeit“ oder „Der braucht halt etwas länger“.
Verhaltensauffällig im Kindergarten
Mit drei Jahren kam Laurenz dann in den Kindergarten. Ich war zu der Zeit gerade mit Ludwig hochschwanger. Es gab keine großen Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung. Die Erzieherinnen ließen ihm Zeit. Er wurde zu nichts gedrängt. Der Kindergarten war gerade im Aufbau und mit ca. 22 Kindern recht überschaubar. Seine Verhaltensweisen schoben wir anfangs auf die Familiensituation, die sich gerade durch die Ankunft des kleinen Bruders änderte. Wir tauschten uns täglich mit den Erzieherinnen aus, merkten aber nach ungefähr einem halben Jahr, das Laurenz keine Fortschritte machte und immer mehr Verhaltensauffälligkeiten zeigte.
- Er reagierte nicht, wenn er angesprochen oder aufgefordert wurde,
- nahm keinen Kontakt zu den anderen Kindern auf, ignorierte sie,
- zog sich immer wieder aus Situationen (Morgenkreis) zurück und versteckte sich,
- konnte die reale Welt von seiner Phantasiewelt nicht unterscheiden,
- hatte Schwierigkeiten sich räumlich zu orientieren,
- führte Selbstgespräche,
- beobachtete nur und
- wollte nicht raus gehen.
Erstes Elterngespräch
Beim ersten Elterngespräch wurde uns dann angeraten, mal abklären zu lassen, ob evtl. eine Entwicklungsverzögerung vorlag. Ganz vorsichtig wurde etwas von Autismus gesagt. Im ersten Moment dachte ich, die spinnen ja, mein Kind ist doch kein Autist. Er brauch halt etwas länger, na und? Müssen immer alle auf einem Stand sein? Ich hab dann angefangen zu googeln und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Bei allen Stichworten, die ich eingab, ploppte immer wieder das Asperger Syndrom und die Autismusspektrumstörung auf. In vielen Beschreibungen und Symptomen erkannte ich plötzlich mein Kind wieder.
Zu der Zeit hatte sich mein Mann gerade eine Auszeit von der Arbeit genommen, um mich zu Hause mit dem Baby zu unterstützen. Das war eine der anstrengendsten und stressigsten Zeiten überhaupt. Laurenz kam nicht damit klar, dass der Papa jetzt auch zu Hause war. Jeden Tag gab es Theater, weil nicht ich ihn in den Kindergarten brachte und abholte, sondern mein Mann. Wir konnten uns zu dem Zeitpunkt nicht erklären, warum er so ausflippte. Im Nachhinein wurde uns erklärt, das er mit der veränderten Situation nicht klar kam. Autisten haben oft Probleme mit Änderungen von Abläufen und brauchen lange, um damit zurechtzukommen.
Auf dem Weg zur Diagnose
Nach dem Verdacht des Kindergartens stellten wir Laurenz unter Beschreibung der Symptome unserem neuen Kinderarzt vor. Er äußerte ebenfalls den Verdacht und schlug eine Testung im sozialpädiatrischen Zentrum, kurz SPZ, vor. Da die Wartezeit für einen Termin im SPZ ziemlich lang war, schaltete der Kindergarten mit unserer Zustimmung das Jugendamt und die Frühförderstelle des Gesundheitsamtes ein.
Dort wurde eine Spielbeobachtung mit unserem Sohn gemacht und zusätzlich eine Verhaltensbeobachtung im Kindergarten. Wir Eltern wurden zu seiner Entwicklung befragt. Des Weiteren mussten wir und auch die Erzieherinnen mehrere Fragebögen ausfüllen. Dazu gehörten u. a.:
- die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom,
- die Checkliste Autismusdiagnostik für Kinder,
- den Fragebogen zu Sozialen Kommunikation (FSK),
- die Conners-Scala und
- die Copeland-Checklist.
Bei allen Checks lag das Ergebnis von Laurenz leicht bis weit über dem Cut-off für Autismus. Wir wurden dann zur Sicherung der Diagnose erneut an das SPZ verwiesen, wo nochmal alle Tests und Fragebögen durchgearbeitet wurden. Dort erhielten wir dann nach ca. einem Jahr die gesicherte Diagnose.
Und HIER geht es weiter mit dem 2. Teil über unser Leben mit dem Autismus…
Alles, was ich zum Thema Autismus geschrieben habe, könnt ihr hier nachlesen:
Ein ganz toller Beitrag der sicherlich vielen Eltern aber auch vielen unwissenden „Licht ins Dunkel“ bringt. Danke dafür!
Vielen Dank für den gelungenen Artikel.
Bei unserem Sohn steht auch die Diagnose Asperger Syndrom im Raum.
Es ist nicht immer ganz einfach, da man ja nur das Beste für das Kind möchte, es aber nicht den gleichen Lösungsweg hat. Das führt ab und zu zu Spannungen.
Die Leute meinen auch immer alles besser wissen zu wollen. Wenn ich dann erkläre, dass es in einem Wutanfall nichts bringt ihn belehren zu wollen, verstehen das einige nicht.
Habt ihr ihn schon abklären lassen?
JA!…. wir sind mittlerweile schon Profis in der Beziehung. Obwohl der Kleine noch nicht ganz 6 Jahre alt ist.
Er kommt im August in die 1. Klasse und freut sich schon sehr. Er wird in der „normalen“ Volksschule sein und zusätzlich im Unterricht unterstützt werden.
Das normale Umfeld nimmt ihn so wie er ist. Er ist auch toll. Genau wie sein älterer Bruder auch.
Autor
Vielen Dank, liebe Nicole. Ja, wir haben schon die Diagnose, seit Laurenz 3,5 Jahre ist. Er geht auf eine spezielle Schule. In einer normalen Schule wäre er nicht klar gekommen. Wir sind ganz glücklich damit und nehmen ihn auch so, wie er ist. LG Kerstin
Liebe Nicole,
wir haben die Volksschule letztes Jahr hinter uns gebracht – nicht ohne Zwischenfälle. Aber wir haben ganz wunderbar die Kurve gekratzt. Ich hab unsere Krisenbewältigung hier dokumentiert: https://muttis-blog.net/krisenbewaltigung-in-der-schule-ein-erfahrungsbericht/ Vielleicht hilft’s euch mal in irgendeiner Situation.
Unser Sohn geht mittlerweile ins Gymnasium – und es klappt wirklich wunderbar. Und das obwohl er schon fast von der Volksschule geflogen und in der Sonderschule gelandet wäre …
Alles Gute und viel Kraft auf eurem Weg!
Ich habe unseren Weg auch am Blog begleitet. Unser Autist geht mittlerweile mit Erfolg ins Gymnasium – und das, obwohl er zwischenzeitlich fast von der Regelschule geflogen wäre. Ich habe immer wieder über unsere Erfolge, unsere (teils selbst gemachten) Hilfsmittel, hilfreiche Bücher für Kinder und Eltern, über Fortschritte, unseren Rettungsanker und auch über Rückschläge geschrieben: https://muttis-blog.net/tag/autismus/
Es liegt an uns – denn Asperger-Kinder können viel erreichen!
Danke für den tollen Beitrag.
Ganz toll geschrieben.
Autor
Lieben Dank, liebe Manuela. LG Kerstin
Danke für deinen ausführlichen Bericht.
Autor
Danke Dir, Dési. Lg Kerstin
Ich habe zwar keinen Autisten in der näheren Umgebung, dachte jedoch schon, dass dem so wäre und habe mich am Rande ein wenig mit dem Thema beschäftigt. Vielen Dank für den aufschlussreichen und so sorfältigen sowie persönlichen Erfahrungsbericht.
LG
Gunda
Autor
Liebe Gunda, ich hab mich auch durch das gesamte Web gelesen, als der Verdacht aufkam und war dankbar für die vielen Erfahrungen anderer Eltern. Das hat mir mehr geholfen, als wissenschaftliche Abhandlung. Lg Kerstin
Wunderbar geschrieben und es kam mir vor wie dire geschichte von uns.auch unser sohn war unauffällig bis zum 3.lebensjahr.schliesslich erhielten wir mit 3.5 die diagnose als ich gerade schwanger mit unserer tochter war.
Autor
Eviiii, dann sind deine Kids auch knapp drei Jahre auseinander, wie toll. Ich sag immer, der kleine Bruder ist das Beste, was unserem Großen passieren konnte. LG Kerstin
Hallo Kerstin,
ich kenne dich erst seit gestern Abend.
Ich bin Cettina, gebürtige Italienerin die in Heidelberg geboren ist und jetzt am Comer See lebt. Vermisse Deutschland sehr auch wenn es mir hier an nichts fehlt.
Eigentlich suchte ich ein Blog mit neuen TM Rezepten und so bin ich auf dich gestossen. Gleich warst du mir sympathisch.
Freu mich mehr von dir zu erfahren und gespannt was du so teilst.
Kompliment für deine Familie und vor allem die Frau die das ganze managt.
La mamma e la mamma !
Ciao Cettina